Giuliano Bignasca ist gestern überraschend gestorben. Als Gründer und Seele der anti-europäischen Protestpartei Lega dei Ticinesi hat er in 20 Jahren die politische Kultur der Südschweiz nachhaltig umgepflügt.
Er schrie. Er provozierte. Und duzte alle. Bei Fernsehdebatten war er nicht zu bändigen. Doch nun ist seine Stimme verstummt. Giuliano Bignasca verstarb gestern Vormittag in seiner Wohnung in Lugano-Canobbio. Offenbar ein Herzversagen. Am 10. April wäre er 68 Jahre alt geworden. „Mit deinem plötzlichen Tod hast du uns alle ein letztes Mal überrascht", hiess es in einem der zahllosen Blogeinträge. Unglauben, Konsternation und Trauer herrschten im ganzen Tessin, selbst bei den politischen Gegnern. Auch im Bundeshaus verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer.
Ein Tessin ohne Bignasca? Eigentlich unvorstellbar. 20 Jahre lang hat dieser Mann, der wegen seiner bescheidenen Körpergrösse von allen „Nano", der Zwerg, genannt wurde, das politische Geschehen massgeblich mitbestimmt. „Irgendwie dachten wir, er sei unsterblich", brachte es der aufgewühlte Lega-Regierungsrat Marco Borradori auf den Punkt. Ständeratspräsident Filippo Lombardi (CVP) wechselte umgehend das Frontbild auf seiner Facebook-Seite aus. Dort sieht man ihn mit Bignasca brüderlich vereint. Lombardi verliert mit dem Lega-Leader einen langjährigen Unterstützer.
Nano Bignasca war in jeglicher Hinsicht ein unkonventioneller Politiker. „Ein rüder Mensch, aber genial", sagte Roberto Maroni, neugewählter Präsident der Region Lombardei und Leitfigur der italienischen Schwesterpartei Lega Nord. Angefangen hatte Bignasca ganz unten, schon als Jugendlicher arbeitete er im Steinhauerbetrieb des Vaters. Zusammen mit seinem Bruder Attilio baute er über die Jahre ein Baugeschäft und Immobilienimperium auf.
Obwohl er schliesslich mit Millionen jonglierte, führte er persönlich ein bescheidenes Leben. Mietwohnung und Kleinwagen reichten ihm. Einen Schlips hat er nie gebunden. Polo-T-Shirt und halblange Haare waren sein Markenzeichen. Er war stolz, seinen Firmensitz im Arbeiterquartier Molino Nuovo von Lugano zu haben. Das war seine Heimat. In seinem - im Übrigen immer akkurat aufgeräumten - Büro zeigte er gerne eine Foto, die ihn als schnittigen Fussballer in Jugendjahren beim FC Lugano abbildete.
Ende der 1980er Jahre entdeckte Bignasca seine rebellische Seite und die Macht der Medien. Er gründete und finanzierte die Zeitung „Mattino della Domenica" und zog gegen das Establishment zu Felde. 1991 folgte dann zusammen mit Flavio Maspoli die Gründung der Lega dei Ticinesi, deren Programm er immer so zusammenfasste: Nein zur EU, Ja zum Bankgeheimnis und „Das Tessin den Tessinern." Parteistrukturen und Kongresse? Nein danke. Dafür gab es Bignasca - den unumstrittenen Präsidenten auf Lebenszeit und sein Sprachrohr „Mattino."
Mit ihrem Anspruch, die Macht und Machenschaften der historischen Parteien FDP und CVP im Kanton brechen zu wollten, eroberte sich die Lega bei vielen Tessinern Sympathien. Fast schon euphorisch war die Stimmung in den Anfangsjahren. Etwa als im Juli 1991 Bignasca und Maspoli mit einer Autobummelfahrt auf der A2, der so genannten Freiheitskarawane, gegen Temporeduktionen auf der A2 protestierten und einen 30 Kilometer langen Stau verursachten.
Bald stellten sich die Wahlerfolge ein, vor allem kantonal. Auf nationaler Ebene spielte die Lega nie eine grosse Rolle. Sie stellte seit 1991 in der Regel zwei Nationalräte. Bignasca sass selbst zwei Mal im Nationalrat: 1994/95 und 1999-2003. Doch das Parlament in Bern war nie seine Bühne, auch wegen mangelnder Deutschkenntnisse. Wohler fühlte er sich in der Exekutive, insbesondere in Lugano, wo er seit 2000 im Stadtrat sass. Am kommenden 14. April wollte er in Lugano die Lega zur stärksten Partei machen, so wie es ihm 2011 bei den kantonalen Regierungsratswahlen gelang. Fraglos hatBignasca einen entscheidenden Anteil an der EU-kritischen Haltung des Tessins.
Er feierte Erfolge, doch er ging für seine Ziele auch über Leichen. Dau gehörten Kampagnen gegen Ausländer, Asylsuchende und Grenzgänger. Mit grobschlächtigen Sprüchen und geschmacklosen Karikaturen machte er seine Widersacher regelmässig im „Mattino" fertig. Einige seiner Opfer leiden heute noch unter den unsäglichen Attacken. Nur wenige wagten aufzumucken. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er wiederholt wegen Verleumdung und übler Nachrede verurteilt wurde. Es hat ihn alles nicht gejuckt, genauso wenig wie eine Gefängnisstrafe wegen Kokainkonsums.
Die Deutschschweiz hat Bignasca nie richtig verstanden. Man sah ihn vor allem als kuriosen Polit-Clown, der für Schlagzeilen sorgte, wenn er nach einem Wahlsieg mit einem Gewehr Freudenschüsse vom Balkon abfeuerte. Die Feinheiten seiner Ironie, subtilen Intelligenz und Hinterhältigkeit blieben ennet des Gotthards verborgen, genauso wie seine Menschlichkeit und Grosszügigkeit. Ein Mann mit zwei Gesichtern.
Was passiert in der Tessiner Politik nach dem Tod Bignascas? Die Folgen sind nicht absehbar. Denn zum System Bignasca gehörte, dass er nicht einmal einen Stellvertreter hatte. Die Bewegung ist trotz ihrer Wahlerfolge personell ausgedünnt. Ob Marco Borradori sein Erbe antreten kann, bleibt zu bezweifeln. Ihm fehlt die rebellische Seite. Und wer finanziert den „Mattino"? So ist zu erwarten, dass sich eine Machtlücke auftut. Die traditionellen Parteien werden sich anschicken, diese Lücke zu füllen. Sicher ist: Mit dem Tod Bignascas geht für das Tessin eine Epoche zu Ende.