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  3. „Terror“ in Tel Aviv: Sara von Schwarze über ihre Schirach-Inszenierung

Kultur Von Schirachs „Terror“ in Tel Aviv

Nichts ist eindeutig, wenn es um Menschenleben geht

Auch in Israel wird das Recht oft durch die Realität herausgefordert: Bühnenbild von „Terror“ Auch in Israel wird das Recht oft durch die Realität herausgefordert: Bühnenbild von „Terror“
Auch in Israel wird das Recht oft durch die Realität herausgefordert: Bühnenbild von „Terror“
Quelle: Shay-lee uziel
Ferdinand von Schirachs Moralstück „Terror“ war in Deutschland ein Kassenschlager. Wie aber führt man das Stück in Israel auf? Ein Werkstattbericht der Regisseurin Sara von Schwarze.

Omri Nitzan, der künstlerische Leiter des Cameri-Theaters in Tel Aviv, gab mir das Stück „Terror“ auf Deutsch zu lesen. Es hat mich tief bewegt und ich konnte nicht aufhören zu lesen. Dieses anspruchsvolle Drama auf die Bühne zu bringen ist nicht leicht. Die gesamte Aufführung findet in einem Gerichtssaal statt, in dem über eine bereits geschehene Tat verhandelt wird. Es sieht aus, als ob sich das eigentliche Drama nicht in der Gegenwart abspielte, und der Autor hat nicht gezögert, teilweise seitenlange Monologe einzuflechten.

Aber die Klugheit, mit der das Thema angegangen wird, verlieh dem Stück seinen intellektuellen und emotionalen Gehalt, der nicht nur mich, sondern offenbar auch das Publikum sehr berührt. Das Stück kam bereits in Dutzenden Theatern zur Aufführung. Es ist ein Beispiel dafür, dass man eine sozialethische Frage zur Debatte stellen kann, ohne weder in den Klischeesumpf von links oder rechts, liberal oder konservativ noch ins Didaktische oder Militante abzugleiten.

Die Präzision, mit der das Dilemma aufgerollt wird, faszinierte mich. Das ist aus meiner Sicht die Aufgabe der Kunst – nicht Tatsachen zu schaffen, sondern Fragen zu stellen. In der Auseinandersetzung mit dem moralischen Dilemma eines Piloten, der auf eigene Faust beschließt, ein entführtes Passagierflugzeug abzuschießen, debattiert der Autor indirekt mit uns über das Wesen der Demokratie und des Rechtssystems. Er macht deutlich, dass wir immer eine Wahl haben und dass es keine absolute Wahrheit gibt. Er demonstriert augenfällig, dass der eigentliche Sinn der Gesetze darin besteht, uns vor uns selbst zu schützen.

Was sind unsere Werte?

Ferdinand von Schirach ist ein bekannter Strafverteidiger und sehr erfolgreicher Schriftsteller. Ich könnte mir denken, dass sein Beruf und sein familiärer Hintergrund ihn bewogen haben, sich in seinen Büchern und Publikationen immer wieder mit dem Schicksal von Menschen und deren Auseinandersetzung mit Recht und Gesetz zu beschäftigen.

zu Ferdinand von Schirach Terror Cameri Theatre Tel Aviv Photo credit Sara von Schwarze portrait –Yossi Zwecker
Sara von Schwarze
Quelle: Yossi Zwecker

In einer Rede anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele 2017 erklärte von Schirach, warum ein Jurist wie er, der an das Gesetz und nicht nur an die Meinung der Mehrheit glaubt, in seinem Stück das Publikum über den Urteilsspruch entscheiden lässt. Diese Rede war für mich ein Anlass, nicht mehr darüber nachzudenken, für welche Seite ich in dem Stück Partei nehme.

Von Schirach erzählte, dass die Zuschauer nach der Aufführung im Foyer stehen bleiben und miteinander reden, anstatt gleich zum Essen zu gehen. Sie diskutieren leidenschaftlich über unsere Gesellschaft, unseren Staat, unsere Welt und unsere Zukunft. Dadurch wird die Verfassung in seinen Augen lebendig. Für diesen Zweck schreibt er.

Als ich nach der Aufführung das Publikum betrachtete, wurde mir klar, wie recht der Autor hat. Wenn jeder Zuschauer das Theater mit der Erkenntnis verlässt, dass in dem Moment, in dem es um Menschenleben geht, die Entscheidung niemals absolut und eindeutig ist, ganz gleich, was unsere Wertvorstellungen und unsere Weltanschauungen sind, dann haben wir unser Ziel erreicht.

Welche Welt möchten wir?

Denn hinter jedem Namen steht ein Mensch und eine Familie und Freunde und eine ganze Welt, und all das kann von einem Augenblick zum anderen vernichtet werden. Ich habe das Gefühl, dass ich durch dieses Stück gemeinsam mit den Zuschauern Fragen über das Wesen unserer Existenz in diesem komplexen Land Israel stellen kann. Dass ich für einen Moment innehalten und mit ihnen darüber nachdenken kann, welche Welt wir gestalten möchten.

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Quelle: WELT/ Gil Yaron

Bei der Beschäftigung mit den Akteuren war es mir wichtig herauszufinden, was die private Sicht jedes Einzelnen auf das Ereignis ist, das dem Stück zugrunde liegt, abgesehen von der Betrachtungsweise, die ihm durch seine Rolle in der Gerichtsverhandlung auferlegt ist. So habe ich zum Beispiel eine Frau als Richterin gewählt und keinen Mann. Eine Frau in einer männlich geprägten Welt.

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Ich habe gemeinsam mit dem Kostümbildner und den Schauspielern versucht, jeden der Akteure in ein vorstellbares soziales Umfeld hineinzustellen – er könnte Migrantenhintergrund haben, der gesellschaftlichen Elite angehören, aus einfachen Schichten stammen, bodenständig sein, Mann oder Frau sein et cetera. Wir sind doch alle von Meinungen beeinflusst, mit denen wir groß geworden sind, von unserem nationalen und genderbestimmten Hintergrund, von unserem sozialen Status.

Haben wir eine Wahl?

Wir suchen alle nach der absoluten Schwarzweiß-Wahrheit, die nicht existiert. Wir müssen prüfen, bis zu welchem Grade Entscheidungen wirklich die unseren sind und inwieweit sie von Überzeugungen abhängen, die uns geprägt haben. Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit? Einen anderen Weg, an den wir nicht gedacht haben?

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Sobald uns klar wird, was die „Verletzung“ ist, von der aus jede Figur in dem Stück oder letztlich jeder von uns agiert, können wir zu einer Entscheidung gelangen, anstatt aus der Angst heraus zu handeln, dass wir „keine Wahl haben“. Nur so konnten wir die Akteure zum Leben erwecken und die Gerichtsverhandlung emotional aufladen.

Ich habe mit dem Bühnenbildner Avi Sechvi versucht, den Realismus einer Verhandlung im Gerichtssaal zu erhalten, aber trotzdem mit dem Raum zu spielen. Avi kam mit der Idee auf mich zu, Perspect-Wände mit Spiegeleffekt aufzustellen. Das heißt, der Spiegel wird bei einer bestimmten Beleuchtung transparent, sodass man verfolgen kann, was hinter den Kulissen beziehungsweise hinter dem Gerichtssaal geschieht. Dies ermöglicht intime Situationen, in denen der Angeklagte für einige Augenblicke sozusagen unbeobachtet mit sich allein sein kann.

Angeklagt Szene aus Terror im Cameri Theatre Tel Aviv
Keine Wahl? Angeklagter in der "Terror"-Inszenierung in Tel Aviv
Quelle: Shay-lee uziel

Darüber hinaus reflektiert der Spiegel das Publikum, das sich selbst sieht, und zwar in seiner wichtigen Rolle als Geschworenengericht, an das sich die Akteure wenden. Itamar Lurie, der für die Beleuchtungs- und Videoarbeit verantwortlich ist, und ich waren bemüht, bestimmte Augenblicke hervorzuheben und andere Momente intimer zu gestalten, ohne die Akteure auf der Bühne in den Schatten zu stellen.

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Itamar stellte irreale Bilder in die Videosequenzen, die nicht mit dem Geschehen auf der Bühne konkurrieren, sondern es nur begleiten und die innere Welt jedes Akteurs und die emotionalen Hintergründe widerspiegeln, aus denen heraus jede der Personen agiert.

Ich bat den Musiker Gadi Seri, auch die Stimme des Terroristen in die musikalische Gestaltung einzubringen. Schließlich war er der Anlass dafür, dass wir im Theater sitzen und über die Auseinandersetzung mit dem Terror diskutieren. Gadi spielte mir IS-Musik vor, mit der Enthauptungen begleitet werden – Männerstimmen ohne Instrumente. Der Gesang klingt ruhig und angenehm. Der Text weniger. Das erinnerte uns daran, dass einmal Menschen zu klassischer Musik zu den Gaskammern geführt wurden.

Wer schützt uns vor uns selbst?

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Gadi flocht in diese Musik Sequenzen/Variationen mit europäischen Instrumenten ein. Die verschiedenen Instrumente zeigen, dass wir innerlich alle gleich sind und dass wir uns nur durch die Art unterscheiden, wie wir uns ausdrücken. Die „Instrumente“, die wir benutzen, mögen noch so verschieden sein, doch letzten Endes sind wir trotz der Unterschiede und Abgrenzungen alle Menschen.

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Quelle: YouTube
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Gerade in Israel, wo die komplexe Realität das Rechtswesen und die Rechtsprechung ständig herausfordert, kann dieses Stück dem Publikum mit eindringlicher Klarheit vor Augen führen, was die Essenz von Recht und Demokratie ist: uns vor uns selber zu schützen.

Die Theaterregisseurin Sara von Schwarze wurde in München geboren und lebt heute in Tel Aviv. Für ihre Arbeiten an israelischen Theatern wurde sie vielfach ausgezeichnet.

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