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Ausland Katalonien-Krise

In Spanien spielt die Zeit gegen die Unionisten

Spanien blickt wegen der Katalonien-Krise voller Sorge nach Barcelona: Regierungschef Carles Puidgemont ist am Zug. Er muss bis Montag sagen, wo er genau hin will. Auch Premier Mariano Rajoy steht massiv unter Druck.

Als am Donnerstag bei der Kundgebung zum spanischen Nationalfeiertag an der Plaça de Catalunya die Stühle flogen, stand zunächst Schlimmes zu befürchten. Gingen „Unionistas“ und katalanische „Independentistas“ nach Wochen der Anspannung jetzt auch physisch aufeinander los? Die Folgen wären wohl unkalkulierbar gewesen.

Wie sich bald herausstellte, waren es dann aber doch „nur“ rivalisierende Hooligans der Fußball-Klubs Atlético Madrid und Valencia, die sich vor dem „Café Zurich“ eine wüste Straßenschlacht lieferten; obwohl sie ja an sich wegen derselben politischen Meinung nach Barcelona gekommen waren.

Wendet Rajoy den Notstandsartikel 155 an?

Dass ihre Stadt jetzt auch noch zur Bühne für rechtsradikale Rowdys aus dem übrigen Spanien wird, verstärkte allerdings den Verdruss, den viele Bewohner Barcelonas allmählich gegenüber Massenaufläufen und Fahnenschwenken empfinden. Seit dem Terroranschlag am 17. August ist die Innenstadt oft unbenutzbar, die Stadt befindet sich noch immer im emotionalen Ausnahmezustand.

Nahtlos gingen die Trauermanifestationen in die Vorbereitung des Unabhängigkeitsreferendums über, es folgten Polizeirepressionen, Generalstreik und Gegendemonstrationen. Am vergangenen Sonntag brachten die Unabhängigkeitsgegner fast so viele Anhänger auf die Straße wie die Befürworter regelmäßig am katalanischen Nationalfeiertag. Zumindest bei der viel beschworenen „schweigenden Mehrheit“ scheint seither die Meinung zu dominieren, dass nun wirklich jede Seite ihr Statement mehr als ausreichend gemacht hat.

Die mit Spannung erwartete Rede des katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont am Dienstag wurde vor diesem Hintergrund überwiegend mit Erleichterung aufgenommen. Dass er mit seiner „suspendierten Unabhängigkeitserklärung“ zumindest für ein paar Tage die Luft aus dem Konflikt nahm, mag Hardliner auf beiden Seiten ebenso enttäuscht haben wie die eher moderate Reaktion von Mariano Rajoy.

Spaniens Ministerpräsident will zumindest eine Klarstellung von Puigdemonts Intentionen abwarten, bevor er gegebenenfalls den Notstandsartikel 155 anwendet. Der Ball liegt damit wieder im katalanischen Feld. Bis Montag hat Rajoy als Frist ausgegeben. Tage für die Politik, Tage des Schachspiels zwischen Barcelona und Madrid, wie es die Katalanen seit Generationen kennen.

Oder auch nur: eine kurze Atempause. Denn die Justiz lässt nicht locker und will am selben Montag zum zweiten Mal die wichtigsten außerparlamentarischen Independentistas-Anführer Jordi Sànchez (Assemblea Nacional Catalana, ANC) und Jordi Cuixart (Òmnium Cultural) sowie den Chefmajor der katalanischen Polizei, Josep Lluís Trapero, wegen „Aufruhr“ verhören und gegebenenfalls inhaftieren.

Gleichzeitig bestätigte Spaniens Verteidigungsministerin María Dolores de Cospedal, dass zusätzlich zu den in Katalonien stationierten Extra-Polizeieinheiten auch für die Armee zur Sicherheit ein Operationsplan ausgearbeitet wurde. Und auch Puigdemonts Koalition der Unabhängigkeitsparteien ist alles andere als einig, wie der nächste Zug des Regionalpräsidenten aussehen soll.

Puigdemont hält seine bunte Truppe zusammen

Vereinigungen wie die ANC und Puigdemonts Juniorkoalitionspartner von der linksanarchistischen CUP fordern, die aufschiebende Wirkung der Unabhängigkeitserklärung zu kündigen und am besten noch vor Montag unmissverständlich die katalanische Republik auszurufen. Die Linksrepublikaner ERC, eine der beiden Parteien des regierenden Bündnisses Junts pel Sí, vertreten eine ähnliche Position.

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In Puigdemonts liberaler PDeCAT dagegen haben die europäischen Warnungen der vergangenen Tage deutliche Zweifel aufkommen lassen. PDeCAT-Parteichef und Ex-Regionalpräsident Artur Mas sagte am Freitag: „Wenn ein Staat sich unabhängig erklärt, aber von niemandem anerkannt wird und nicht als solcher handeln kann, ist das eine ästhetische Unabhängigkeit.“

Bislang hat Puigdemont seine bunte Truppe diszipliniert beieinanderhalten können. Rajoy dürfte das nicht erwartet haben: Madrid spekuliert seit Jahr und Tag darauf, dass sich die ungleiche Allianz irgendwann von selbst zerlegen wird. Ist der Zeitpunkt nun gekommen, verlieren CUP und ANC die Geduld, die sie noch am Tag des Generalstreiks dazu bewog, im Laufe des Nachmittags die Leute wieder von der Straße wegzurufen? Zwei Tage nach den Polizeiexzessen beim Referendum, die eine große Mehrheit der Katalanen empörte, schien das Momentum auf der Seite der Independentistas. Anderthalb Wochen später wird das niemand mehr behaupten.

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Insbesondere die mögliche Abwanderung von Unternehmen und Arbeitsplätzen jenseits ihres bloßen Firmensitzwechsels taugt für viele Katalanen als Schreckensszenario. Für dauerhafte revolutionäre Abenteuer ist der Leidensdruck dann doch nicht groß genug – und der Lebensstandard zu hoch. Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung kann auf keine Mehrheit in der Bevölkerung und im Establishment zählen. Folgende Warnung von Mas sollte man in Madrid trotzdem bedenken: „Wenn sie (dort) eine demütigende und beschämende Aufgabe wollen, werden sie sie nicht bekommen.“

Das Duell zwischen Puigdemont und Rajoy ist ja eben keines von Kabinettspolitikern im Stil des 19. Jahrhunderts, in dem es klare Sieger und Verlierer geben kann. Es wird in einer Demokratie ausgetragen, in der regelmäßig gewählt wird. Und selbst wenn das Harakiri der vergangenen Wochen das Unabhängigkeitsprojekt kurzfristig diskreditieren sollte, wird es dadurch kaum von der Bildfläche verschwinden.

Man muss nur durch die Demonstranten auf beiden Seiten streifen, um festzustellen, dass die Zeit nicht unbedingt für die Unionisten spielt: Bei ihnen ist das Durchschnittsalter um mindestens eine Generation älter. Statistische Untersuchungen bestätigen diesen Eindruck.

Kataloniens politische Kultur ist gespalten

Beim genaueren Blick zeigt sich, dass sich die vitale politische Kultur Kataloniens nicht in zwei Lagern gegenübersteht, sondern in mehrere, ungefähr gleich große Teile.

Rund 25 Prozent sind bedingungslose Independentistas, auch wenn nichts falscher wäre, als sie etwa mit der xenophoben Lega Nord in Italien über einen Kamm zu scheren. Sie sind überwiegend weder ökonomisch und schon gar nicht im klassischen Sinne nationalistisch motiviert, sondern eher utopistisch; sie wählen CUP oder ERC und glauben fest an die Chance auf einen besseren Staat.

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Ein in etwa weiteres Viertel lässt sich als moderater Sezessionismus beschreiben. Es umfasst große Teile des Establishments und im Wesentlichen die Wählergruppe der PDeCAT, die früher als CiU jahrzehntelang eine regionalistische Partei war, die mit ihren Stimmen die Madrider Regierungen unterstützte und so immer mehr Kompetenzen für Katalonien herausschlug.

Nachdem das spanische Verfassungsgericht auf Antrag von Rajoys PP im Jahr 2010 das neue katalanische Autonomiestatut zusammenstrich und Mas’ Ersuch um einen neuen Finanzausgleich von Rajoy abgewiesen wurde, vollzog sie den Schwenk zum Independentismus. Bei einer sanfteren Linie aus Madrid und entsprechenden Zugeständnissen wie einem legalen Referendum könnte ein erheblicher Teil dieser Wähler zum Verbleib bei Spanien umgestimmt werden.

„Ein Machtpoker, um das Gesicht nicht zu verlieren“

„Die können doch selber nicht wollen, dass Katalonien ein eigener Staat wird.“ Unser Finanzmarktexperte Stefan Riße analysiert die politischen Entwicklungen in Spanien und deren Auswirkungen auf die Märkte.

Quelle: N24/ Dietmar Deffner

Das dritte Viertel besteht aus Parteien, die für das Selbstbestimmungsrecht, eine föderale Reform und eine starke katalanische Identität eintreten, aber dies innerhalb Spaniens verwirklicht sehen wollen und dem „nationalen Thema“ insgesamt keine Priorität einräumen. Dazu gehört die Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau nahestehende Gruppierung „Catalunya Sí que es Pot“ sowie historisch auch die Sozialisten der PSC, die mit den spanischen Sozialisten der PSOE in etwa so verbunden sie wie die CSU mit der CDU.

Als die Unabhängigkeit kein Thema war, fuhr die PSC mit ihrem vermittelnden Kurs so gut, dass sie sich mit der CiU in der Regierung abwechselte. Zuletzt lag sie nur noch bei 13 Prozent und musste wegen ihrer Solidarität mit der Schwesterpartei etliche Personalverluste hinnehmen. Eine Ausrufung des Notstandsartikels 155, mitgetragen von der PSOE, würde sie wohl endgültig spalten.

Auch um in dem dadurch freigesetzten Wählerreservoir zu fischen, fordert die prospanische Protestpartei Ciudadanos wohl so nachhaltig die Anwendung von Artikel 155 und Neuwahlen.

Viele Katalanen leben de facto unabhängig

Bei den vergangenen Regionalwahlen kam Ciudadanos auf knapp 18 Prozent der Stimmen, die PP von Rajoy gerade mal auf acht Prozent. Die unmissverständlich gesamtspanischen Parteien sprechen also nur für rund ein Viertel der Katalanen, was den Graben zwischen Madrid und Barcelona zu verstehen hilft.

Eine unterschiedliche politische Kultur und die Katalanisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte auf Basis einer im Bildungswesen schon jetzt umfassenden Autonomie hat insofern längst parallele Wirklichkeiten geschaffen. Im Alltag leben viele Katalanen de facto unabhängig. Sie schauen kein spanisches Fernsehen und lesen keine spanischen Medien. Die größte Tageszeitung des Königreiches, „El País“, hat in Katalonien gerade mal eine Verbreitung von rund 15.000 Exemplaren.

Die wüsten Attacken dieser Tage in den Madrider Leitartikeln und TV-Talks bestätigen also in großen Teilen Kataloniens höchstens die Wahrnehmung, wonach Antikatalanismus im übrigen Land als Surrogat für den politisch inexistenten Rechtspopulismus fungiert.

Auch dass sich Felipe VI. vorige Woche bei seiner Ansprache der Nation nicht zu einem Wort des Ausgleichs oder auch nur zu einem „Guten Abend“ auf Katalanisch – immerhin offizielle Staatssprache in seinem Königreich – durchringen konnte, traf vor diesem Hintergrund weniger die überzeugten Independentistas (sie erwarten von ihm sowieso nichts) als die Mitte der katalanischen Gesellschaft, die sich nach einem Schiedsrichter sehnt und sich dabei auch von Europa so enttäuscht sieht.

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Und wenn selbst vermittelnde Kräfte wie Colau als „Putschisten“ bezeichnet werden oder PP-Funktionär Pablo Casado öffentlich Puigdemont droht, er könne „enden wie (Lluís) Companys“ – der vom Franco-Regime hingerichtete Ex-Präsident Kataloniens –, dann fühlt sich beileibe nicht nur der getroffen, dem diese Angriffe gelten sollten.

Wie schon bei der Festnahme von Mitarbeitern der Regionalregierung am 20. September oder der Polizeigewalt beim Referendum würde eine Anwendung von Artikel 155 – und damit die endgültige Aussetzung der regionalen Autonomie – erneut zu einem Solidarisierungseffekt mit den Unabhängigkeitsbefürwortern führen. Dieser könnte sich auf Dauer als irreparabel herausstellen.

Auch deshalb wird Rajoy den Notstand wohl am liebsten zu vermeiden versuchen. Die Katalanen mögen dieser Tage etwas rebellionsmüde sein. Da wäre es womöglich klüger, sie nicht bei erstbester Gelegenheit wieder aufzuwecken.

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