Die Briten spüren den Ausstieg aus der EU schon heute im Geldbeutel, obwohl der Schritt noch gar nicht vollzogen ist. 600 Pfund (682 Euro) mehr hätte jeder Bürger heute im Jahr zur Verfügung, hätten die Briten im Juni 2016 nicht für das Ende ihrer Zugehörigkeit zur Union gestimmt, so eine aktuelle Untersuchung von Garry Young vom Wirtschaftsforschungsinstitut NIESR in London.
Er sei „nahezu sicher“, dass die relative Abschwächung der Wirtschaft und der damit einhergehende Rückgang des Lebensstandards eine Folge des Referendumsentscheids seien. Gleichzeitig hat mit dem Brexit-Minister David Davis erstmals ein eingefleischter Befürworter des Ausstiegs eingeräumt, dass das Ende der EU-Mitgliedschaft das Land teuer zu stehen kommen wird.
„Die Ausstiegsvereinbarung wird wahrscheinlich bei Sachen wie Geld die Union begünstigen“, sagte er vor einem Ausschuss des Oberhauses, eine Anspielung darauf, dass das Land die bisher offerierte Zahlung von 20 Milliarden Euro für die Scheidung wird aufstocken müssen. Von einer Einigung über zugesagte Zahlungen und offene Rechnungen der Briten machen die EU-Verhandlungsführer die nächste Stufe der Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen abhängig
Für den schon erfolgten Schnitt beim verfügbaren Einkommen seien zwei Faktoren ausschlaggebend, so Young, der bei dem unabhängigen National Institute of Economic and Social Research (NIESR) die Abteilung Makroökonomische Modelle und Prognose leitet.
Zum einen zeigten sich hier der Effekt der Abwertung des Pfundes und der damit verbundene Inflationsschub. Die Preissteigerung liegt derzeit bei drei Prozent, vor dem Referendum war es noch weniger als ein Prozent. „Der zweite Grund entsteht über geringere Investitionen durch britische Unternehmen in ihre Produktionskapazität.“
Zwar sind die Investitionen auch im zweiten Quartal noch um 2,5 Prozent gewachsen – das längerfristige Mittel lag vor der Brexit-Entscheidung jedoch mit rund fünf Prozent deutlich höher.
Young verwies auch auf Untersuchungen zur Stimmung unter Entscheidungsträgern in Unternehmen. Während vor einem Jahr 28 Prozent von geringeren oder sogar deutlich geringeren Investitionen im eigenen Unternehmen auf Jahresfrist ausgingen, war ihr Anteil im August auf 43 Prozent gewachsen.
Das Institut haben diese Entwicklungen dazu bewogen, die Wachstumserwartungen für das Land zu senken, von 1,9 Prozent für das kommende Jahr auf 1,7 Prozent.
Überall negative Brexit-Auswirkungen
Eine weitere Studie des Instituts, die die regionalen Auswirkungen des Brexit untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass der Süden rings um London besonders negativ betroffen sein dürfte, aber auch die Region um Manchester und der Süden Schottlands.
Dabei handelt es sich jeweils um Regionen, die überwiegend für den Verbleib in der EU gestimmt haben. „Negative Auswirkungen sehen wir aber überall“, sagte Ökonomin Swati Dhingra, eine der Autorinnen der Studie.
Positive Auswirkungen hat die Entscheidung dagegen für die Jobaussichten im öffentlichen Dienst. 3000 zusätzliche Stellen seien im Regierungsbezirk in den vergangenen Monaten geschaffen worden, darunter allein 300 für Anwälte. 660 Millionen Pfund wurden dafür bereits zur Verfügung gestellt, 300 unterschiedliche Programme sind in den verschiedensten Bereichen angelaufen.
Doch das ist noch längst nicht alles: Bis Ende 2018 könnte die Zahl der zusätzlichen Staatsdiener auf 8000 steigen. Unter anderem hat die Finanz- und Zollbehörde Bedarf für bis zu 5000 zusätzliche Mitarbeiter in der Zollabfertigung angekündigt, sollte eine Verhandlungslösung mit der EU27 scheitern.
Doch selbst wenn beide Seiten sich einigen: Da Großbritannien sowohl den Binnenmarkt als auch die Zollunion verlassen will, ist es mit dem reibungsfreien Grenzübertritt bald vorbei. Für regelmäßige Kontrollen von Lkw-Ladungen werden dann genauso Angestellte gebraucht wie für die ausführlichere Kontrolle von Reisedokumenten an den Grenzen. Letztere fallen in die Zuständigkeit des Innenministeriums, das sein Personal zunächst übergangsweise um 1200 Personen aufgestockt hat.
Folgen für die Wirtschaft unter Verschluss
Noch ganz offen ist bisher, wie viele zusätzliche Experten bei Regulierungs- und Zulassungsbehörden, von Pharmazie über Lebensmittel bis zu Finanzdienstleistungen gebraucht werden könnten. Dafür müssen zunächst Einigungen für die einzelnen Bereiche gefunden und Entscheidungen getroffen werden, wo sich das Land an EU-Vorgaben anlehnen könnte und wo es einen eigenen Weg verfolgt.
Wie sich der Brexit auf diese und andere Sektoren auswirken dürfte, hat Davis’ Brexit-Ministerium in den vergangenen Monaten im Detail untersuchen lassen, heruntergebrochen auf 58 Wirtschaftszweige.
Doch diese Liste bleibt unter Verschluss, trotz zahlreicher Vorstöße von Abgeordneten der Konservativen und der oppositionellen Labour-Partei. Das Ministerium brauche einen „sicheren Ort“, um politische Entscheidungen vorzubereiten, begründet es die Geheimnistuerei.