Katalonien-Konflikt Prozess in Madrid: Dieses Urteil ist eine Schande für Spanien

Demonstranten fordern am 14. Oktober bei einer Kundgebung in Barcelona Freiheit für die politischen Gefangenen.
© Lluis Gene / AFP
Der Oberste Gerichtshof hat heute Strafen gegen katalanische Politiker verhängt: gegen den Ex-Vizepräsident, einen EU-Abgeordneten, Ex-Minister und engagierte Bürger. Sie erwarten bis zu 13 Jahre Haft. Das harte Urteil zeigt die tiefe Krise der spanischen Demokratie.

Es gibt ein Möbelstück, das in Spanien unbekannt zu sein scheint: den Verhandlungstisch. Denn wer sich an ihn setzt, hat schon verloren, so die Auffassung vieler Politiker in Madrid.

Die Fähigkeit zum Dialog und damit zum Kompromiss ist der spanischen Demokratie abhanden gekommen. Sei es bei einer Regierungsbildung in Madrid – das spanische Volk wird am 10. November zu den vierten Neuwahlen in nur vier Jahren aufgerufen, weil jüngste Koalitionsverhandlungen wieder gescheitert sind – oder bei der Katalonien-Frage.

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Seit Jahren schwelt der Konflikt um die wirtschaftlich wichtigste Region im Nordosten des Landes. Statt mehr Selbstverwaltung, wie es 2006 die Parlamente in Barcelona und Madrid verabschiedet hatten, kippte 2010 das spanische Verfassungsgericht das damals neu ausgehandelte Autonomiestatut. Die Partido Popular (PP) unter dem damaligen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy hatten dagegen geklagt. Statt Regionalisierung, wie sie von der EU für Kandidatenländer betrieben wird, bedeutete es eine Rezentralisierung in Richtung Madrid.

Damit nahm das Unheil seinen Lauf: Statt über den Konflikt zu verhandeln, versucht die Zentralregierung seitdem das politische Problem mit juristischen Mitteln in den Griff zu kriegen. Sehr zum Verdruss der Katalanen, die sich mehr und mehr von Madrid abwendeten. Das damalige Urteil war Wasser auf die Mühlen der Unabhängigkeitsbefürworter, die durch alle bürgerlichen Schichten in Katalonien an Zulauf gewannen und gipfelte in dem umstrittenen Referendum am 1. Oktober 2017.

Statt Verhandlungstisch: Politiker auf die Anklagebank

Hätten die Menschen in Katalonien wählen können, wäre vielleicht keine Mehrheit für eine Loslösung von Spanien zustande gekommen und die Forderung der Unabhängigkeit vom Tisch gewesen. Stattdessen schickte Madrid die Guardia Civil nach Katalonien, stahl Urnen und knüppelte auf das Wahlvolk ein – mit mehr als tausend Verletzten. Bilder gingen um die Welt, wie wir sie sonst nur von Ländern kennen, in denen Despoten regieren.

Am 1. Oktober 2017: Ein Angehöriger der spanischen Polizei verschafft sich Zugang zu einem Wahllokal in Katalonien
© Alain Pitton / Picture Alliance

Die nächsten Eskalationsstufen waren die Absetzung des Regionalpräsidenten Carles Puigdemont und seines Kabinetts, die erstmalige Anwendung des Paragrafen 155 der spanischen Verfassung, der die autonome Region Katalonien der Zwangsverwaltung Madrids unterstellte sowie der Verhaftung führender Personen der Unabhängigkeitsbewegung. Dazu gehören die ehemalige Parlamentspräsidentin, fünf Ex-Minister der Regionalregierung und die Vorsitzenden der Bürgerbewegung Asssemblea Nacional und des Kulturvereins Òmnium. Der Vorwurf: Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung von öffentlichen Geldern.

Seit fast zwei Jahren sitzen sie in Untersuchungshaft. Im Frühjahr 2019 wurde ihnen der Prozess gemacht, ein im TV übertragener Show-Prozess unter sehr merkwürdigen Rahmenbedingungen. Wer auch nur an wenigen Tagen die im TV übertragene Gerichtsverhandlung sah, erlebte Polizisten, die stundenlang ausführlich aussagen durften. Doch den Anwälten der Angeklagten wurde das Wort abgeschnitten, wichtige Zeugen und Beweisvideos nicht zugelassen. Aber die neue und rechtsradikale Partei Vox wurde als Nebenkläger zugelassen. Von Anfang an schien die Verurteilung festzustehen, auch wenn die Beweislage alles andere als erdrückend war.

Public Viewing des Gerichtsverfahrens: Der Angeklagte Jordi Cuixart, Präsident der Organisation Omnium Cultural, wird Ende Februar von dem Obersten Gericht in Madrid vernommen.
© ani Codina/Òmnium Cultural / DPA

Heute hat sich der Hauptvorwurf der Rebellion als unhaltbar erwiesen, zumal dieses schon das schleswig-holsteinische Oberlandesgericht bei der Auslieferung Puigdemonts 2018 für unzulässig erklärt hatte. Er und weitere Katalanen waren ins Ausland geflohen, um einer Verhaftung zu entgehen. Den internationalen Haftbefehl musste Spanien schon zweimal zurückziehen.

Der Schuldspruch heute mit Gefängnistrafen zwischen neun und 13 Jahren entbehrt jeglicher Verhältnismäßigkeit und trägt zu einer weiteren Verhärtung der Fronten bei: Es beweist das Versagen Spaniens bei der Lösung von Konflikten. Längst ist die Katalonien-Frage keine nur innerspanische Auseinandersetzung mehr. Er geht uns alle an, wenn gewählte Volksvertreter über Jahre weggeschlossen werden sollen.

Drei EU-Angeordnete ohne Sitz im Parlament

Im Europaparlament in Straßburg gibt es drei Möbelstücke mit Symbolcharakter, die ebenfalls für einen Skandal sorgen, der im Zusammenhang mit dem heutigen Urteil steht: drei Sessel von Abgeordneten, die seit der letzten Wahl leer bleiben. Es sind die Parlamentssitze der mit zwei Millionen Stimmen gewählten Abgeordneten aus Katalonien, die ihr Mandat nicht antreten durften: Carles Puigdemont, sein Parteikollege Antoni Comín, beide im Exil, und Oriol Junqueras, der ehemalige katalanische Vizepräsident. Letzter wurde zur Wahl zugelassen, obwohl er seit Monaten in Spanien in Untersuchungshaft saß. Heute wurde gegen ihn mit 13 Jahren Haft die Höchststrafe verhängt.

Alle drei Abgeordneten sollten nach ihrer Wahl mit Umweg über Madrid erneut auf die spanische Verfassung schwören – und verhaftet werden. Man stelle sich vor: Die deutschen EU-Abgeordnete dürfen nur nach Straßburg, wenn sie zuvor in Berlin vereidigt werden?

Das heutige Urteil reiht sich nahtlos in eine Reihe von Repressionen des spanischen Staates ein. Erst vor drei Wochen wurden neun katalanische Unabhängigkeitsbefürworter verhaftet. Sie sitzen teilweise in Isolationshaft. Madrid versucht die bisher friedvolle Bewegung zu kriminalisieren.

Auch um die Meinungsfreiheit ist es seit Jahren in Spanien nicht gut bestellt, was in Mitteleuropa kaum wahrgenommen wird: Mehrere Musiker wurden wegen ihrer Texte verurteilt. Zum Beispiel der mallorquinische Rapper Valtonyc, weil er den König beleidigt habe. Vor seinem Haftantritt flüchtete er ins Exil nach Belgien. Wegen seines "Delikts" kann ihn die dortige Justiz jedoch nicht ausliefern.

Für uns selbstverständliche Grundrechte wie freie Meinungsäußerung oder das Recht auf Selbstbestimmung haben in Spanien nicht den selben Stellenwert wie in Mitteleuropa. Mit dem heutigen Richterspruch sollen die Menschen und die Unabhängigkeitsbewegung weiter eingeschüchtert werden. Nicht vorzustellen, was für ein Aufschrei durch Europa gehen würden, wenn in der Türkei, Russland oder Hongkong Volksvertreter hinter Gittern gesteckt werden.

Die spanische Justiz schafft mit der Verurteilung keine Lösung des politischen Konfliktes. Spanien hat sich neue politische Gefangene geschaffen und bleibt im Dauerwahlkampfmodus. Zwischen den Fronten Madrid und Barcelona wird der Graben jetzt nur noch tiefer. Bei der aussichtslosen Lage gibt es nur eine Hoffnung: Dass Brüssel endlich aufwacht und vermittelt, um die Parteien an einen neutralen Verhandlungstisch zu bringen.

#SpainSitAndTalk

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